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Virtuelles Erich Scherer Archiv
Gründung der Baugenossenschaft 1949
Not erzeugt größere Not
Rede von Erich Scherer
1. Die schlimmste unter den persönlichen Nöten, die unser heutiges
Leben verdüstern, ist unstreitig die Wohnungsnot. Sie weitet sich zum
Staatsfeind Nr. 1 aus, wenn wir nicht daran gehen, ihr selbst zu Leibe
zu rücken.
Es geht heute nicht mehr darum, daß jeder Bürger ein Dach über dem
Kopf hat, sondern darum, daß die Menschenwürde, die Volksgesundheit,
die Volkssittlichkeit und die Moral nicht weiter in unzureichenden und
unwürdigen Wohnungen zertreten und vernichtet werden.
Es geht heute um die Familie, um die Zellen des Staates, um seine
Grundpfeiler, deren Leben in der Gegenwart über die Zukunft
entscheidet. Geht es jedoch um die Förderung der Familie, dann steht
wiederum die Wohnung an erster Stelle, dann werden Dinge wichtig, wie
die Beschaffung von Küchen, Nebenräumen usw. in einer Gemeinde, in der
mehr als die Hälfte der Wohnungen von zwei und drei Familien belegt
sind, die sich täglich aneinander reiben. Diese Reibereien zu
überwinden, helfen selten gute Worte und Vorsätze. Wer täglich wie
ich da stehen muß, wo diese Streitigkeiten herangetragen werden, kann
sich ein Bild von den großen Nöten und Sorgen machen. Es geht ganz
einfach um die Würde des Menschen.
Dann wird aber auch deutlich, daß diese Not nicht ein Einzelner
überwinden kann, sondern nur eine große Gemeinschaft von Menschen, die
mit Verständnis und Verantwortung die Aufgaben sehen und sich für ihre
Lösung einsetzen.
In einem Buch, das ich vor kurzem las, schreibt ein Arzt: "Mir
als Arzt gehen diese Massenwohnungen gegen mein soziales, hygienisches
und sittliches Gewissen, ich sehe nicht nur die augenblickliche Not,
sondern auch die Folgen unsozialer, unhygienischer und unsittlicher
Wohnungen und mir kommt es vor, als ob in der Zukunft der Familie, der
Gemeinde und dem Staat ganz andere Rechnungen präsentiert werden, wenn
man einmal die Auswirkungen unsozialen Wohnens sieht in Form von
frühzeitiger Arbeitsunfähigkeit, Jugendverwahrlosung,
Sittlichkeitsverbrechen. Nur eine Zahl: Hessen bezahlt jährlich 52
Millionen DM für die Bekämpfung und Behandlung der
Geschlechtskrankheiten."
Die Überzeugung dieses Arztes ist Ausdruck einer sittlichen
Verantwortung. Ich führe sie nur an, um jedem klar vor Augen zu
führen, wie groß die Gefahren sind, die vor uns stehen und gegen die
wir uns zur Wehr setzen müssen, wenn wir ein erträgliches Leben
führen wollen. Wir stehen alle unter dem gleichen Schicksal. Not
erzeugt größere Not. Dies müssen wir uns immer wieder vor Augen
führen.
Aus dieser Situation heraus hat die Gemeinde mit ihren Vorbereitungen
begonnen. Die Grundsteine sind gelegt. Aufgabe der Gemeinde kann es bei
ihren beschränkten Mitteln nicht sein, selbst in größerem Umfange zu
bauen. Beteiligen wird sie sich nach Kräften und die Voraussetzungen
schaffen: Zurverfügungstellung billiger Bauplätze, Übernahme der
Anschlußkosten, Wasserleitungsbau, Ausarbeitung von Plänen,
Bereitstellung des Holzes, Mithilfe zur Beschaffung von Baumaterial,
Staatliche Finanzierungshilfe, 75 Millionen für 1949, Zuschüsse bis zu
5.000 DM pro Wohnung unverzinslich.
2. Das Innenministerium überläßt es grundsätzlich der Initiative
und der Verantwortung der Gemeinden, Kreise und Städte, im Wettbewerb
untereinander ein örtliches Wohnungsbauprogramm aufzustellen. Dieses
örtliche Wohnungsbauprogramm braucht nicht auf das Jahr 1949
beschränkt zu werden.
3. Das Innenministerium wird die Mittel, die das Finanzministerium
für 1949 bereitstellen wird, nach Abzug der für steckengebliebene
Wohnungsbauten erforderlichen Summe, auf die Kreise und Städte nach
einem Schlüssel aufteilen, der sich aus der Einwohnerzahl und aus der
Dringlichkeit des Wohnungsbedarfs in den einzelnen Kreisen und Städten
ergibt. Das Innenministerium wird diesen Schlüssel ohne Verzug im
Benehmen mit dem Landkreisverband, dem Städteverband und dem
Gemeindetag festlegen.
4. Die Kreise und Städte werden verpflichtet, den
genossenschaftlichen Wohnungsbau im Bauprogramm 1949 in erster Linie zum
Zug kommen zu lassen.
5. Bei der Aufteilung der Mittel auf die Kreise und Städte wird die
weitere Bedingung gestellt, daß im örtlichen Wohnungsbauprogramm auch
die bessere Unterbringung der Personen vorgesehen wird, die in Massen-
und Elendsquartieren kampieren, und daß der vom Lastenausgleich
betreute Personenkreis vorzugsweise bedacht wird.
6. Bei der Aufteilung der Mittel auf die Kreise und Städte wird noch
die weitere Bedingung gestellt werden, daß die Neubürger bei der
Zuteilung der genossenschaftlich erstellten Wohnungen angemessen
Berücksichtigung finden."
Gründungsversammlung der Baugenossenschaft, 24. März 1949
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