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Virtuelles Erich Scherer Archiv
Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1984
Dienst am Bürger
Rede von Erich Scherer
Herr Abgeordneter Volz, Herr Landrat Dr. Braun, Frau Ellinger, Herr
Haupter, meine Damen und Herren!
Eben habe ich aus Ihrer Hand, sehr geehrter Herr Landrat Dr. Braun,
das Bundesverdienstkreuz überreicht erhalten. Sie, Herr Landrat, Sie,
Frau Ellinger, und Sie, Herr Weiss, haben meine Arbeit in einer nun bald
36jährigen Amtszeit anerkannt, gewürdigt, mir Dank ausgesprochen und
mir damit eine nicht geringe Bürde auferlegt. Es ist nicht meine Stärke,
selbst Mittelpunkt zu sein.
Ich danke Ihnen dafür herzlich. Dabei weiß ich, daß das, was Sie
als Erfolge und Leistungen apostrophiert haben, wenn auch viele Vorschläge
und Ideen von mir ausgegangen sind, nicht ohne die Beschlüsse, die
Unterstützung und Hilfe des Gemeinderats, der Ortschaftsräte, der
aktiven Mitarbeit unserer Arbeiter, Angestellten und Beamten, ohne das
große Verständnis und das Vertrauen unserer Bürgerschaft möglich
gewesen wäre. Darin sehe ich eine große gemeinsame Leistung, lebendige
Gemeinde.
Herr Landrat, In recht schwierigen Fragen, ich möchte nur an die Gründung
des Abwasserverbandes Neuffener Tal erinnern, durfte ich Ihrer Unterstützung
stets sicher sein. Für all diese Hilfe und für das große Verständnis
danke ich Ihnen allen sehr herzlich, auch für die guten Wünsche.
Danken darf ich aber auch für das sinnige Geschenk, Frau Ellinger. Ich
hoffe, daß mir diese Uhr noch recht viele frohe und glückliche Stunden
anzeigen möge.
Ich weiß mich heute mit unserer Gemeinde, mit Ihnen allen und
unseren Bürgerinnen und Bürgern in gleicher Weise verbunden. Und, was
an mir liegt, wird auch in der Zukunft dieses Band gegenseitigen Verständnisses,
Vertrauens und aufrichtiger Zusammenarbeit nicht lockerer, es wird im
Gegenteil fest geknüpft werden.
In vier Wahlen hat mich das Vertrauen der Bürgerschaft in diesem Amt
bestätigt und mich die ganzen Jahre getragen. Mir ist Frickenhausen mit
seinen Ortsteilen ans Herz gewachsen.
Wer seinen 65. Geburtstag begehen darf, dessen Gedanken kehren
unwillkürlich an die Weggabelungen und Wegkreuzungen seines Lebens zurück,
gehen den Weg lang, den er gekommen ist. Er sucht sich an seinen frühen
Ideen, Wünschen, Hoffnungen, Erwartungen und Vorsätzen wiederzufinden.
Ich denke an meine Eltern, an den Krieg, die vielen Gesprächsstunden in
der Gefangenschaft, in denen wir nach einem neuen Standort, nach Wegen
aus der tiefen Not und Demütigung, nach uns selbst und unseren künftigen
Aufgaben, nach unserer Verantwortung für die Zukunft unseres Volkes
gefragt und gesucht haben. In einem Punkt waren wir uns alle einig: Uns
war das Leben geschenkt!
Der Tod so vieler guter, treuer Kameraden und Freunde verpflichtete
uns, Hand anzulegen, den Schutt beiseite zu räumen, neu anzufangen und
uns für eine bessere Zukunft einzusetzen.
So habe ich im Dezember 1945, nach meiner Rückkehr aus der
Gefangenschaft, beim Landratsamt Rottweil, wo ich vor dem Krieg war, den
Dienst wieder aufgenommen und im Januar 1946 die Verwaltungsschule in
Stuttgart besucht, um meine durch den Krieg 6 Jahre unterbrochene
Ausbildung abzuschließen. Die Arbeit auf der Landesdirektion des Innern
in Tübingen befriedigte mich nicht, so interessant sie war. Deshalb war
es ein kurzer Entschluß, mich um die Stelle des Bürgermeisters hier zu
bewerben, noch recht unsicher, was diese neue Demokratie nun bringen würde.
Was mich reizte, waren die direkteren Möglichkeiten, dem Einzelnen
in seiner Not zu helfen, waren die Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten,
die Vielseitigkeit der Aufgaben, die Selbständigkeit, die Verantwortung
und die Unabhängigkeit, die dieses Amt bot. Und, ich möchte es gar
nicht verhehlen, die höhere Besoldung, die es mir erst ermöglichte,
nun bald 30 Jahre alt, eine Familie zu gründen.
Die Bürgermeisterwahl am 31. Januar 1948 – acht Kandidaten standen
auf dem Stimmzettel – war eine Wahl, die mir keine Wahl mehr ließ.
Ein Wahlergebnis, das mich zwar freute, aber Zweifel nährte, ob ich je
ein so übergroßes Vertrauen – 92 % – auch rechtfertigen könnte.
Bei der Einsetzung wünschte mir mein Vorgänger, Herr Emil Gneiting,
eine Haut so dick, wie die eines Elefanten. Er wußte wohl, warum er das
sagte! Sie ist wesentlich dünner geworden. Ich bin deshalb nicht
traurig, im Gegenteil. Wie sollte ein Bürgermeister seinem Auftrag
gerecht werden, wenn ihm das Gespür für die Sorgen und Nöte seiner Bürger
abgeht?
Die eigentliche innere Entscheidung für dieses Amt fiel bei einem
Besuch der Flüchtlingsfamilien in den Ziegeleigaragen und in der aus
Betonteilen erstellten Baracke. Die Not war überwältigend. Hier wurde
die Menschenwürde und die Gesundheit mit Füßen getreten. Ein
Familienleben war nicht möglich.
Es ist für uns heutige Wohlstandsbürger nicht mehr vorstellbar, daß
1948/49 in unserer Gemeinde 91 Familien mit 351 Personen – pro Familie
nicht mehr als drei Köpfe – in einem Raum, in Garagen und Baracken
hausen mußten. Die Wohungsbewirtschaftung bestand darin, Familien von
einem Raum in einen anderen umzuquartieren, um Streitigkeiten zu überbrücken.
Einer Person standen 7 m2 Wohnfläche zur Verfügung, heute mehr als 30
m2. Hier konnte nur der Neubau von Wohnungen helfen.
Bereits 1952 standen auf der Reute 30 Wohnhäuser mit 54 Wohnungen,
fast alle in Eigenarbeit erstellt. Die schlimmsten Engpässe konnten
beseitigt werden. Neue Hoffnungen machten sich breit. Ein eigenes Haus
bringt einen Teil Unabhängigkeit; deshalb stand der private Wohnungsbau
immer im Vordergrund. Auf dem Heimenwasen setzten sich die Bemühungen
mit dem Bau von 6 Doppelhäusern und 24 Wohnungen fort.
Eines der schönsten Erlebnisse, wenn nicht das schönste meiner
Amtszeit, war die Unterbringung der Kinder der Familie Führer, die in
der Ziegeleibaracke wohnte. Frau Führer war sehr krank und litt immer
noch unter den schweren Mißhandlungen, denen sie nach Kriegsende in der
Tschechei ausgesetzt war. Ein Krankenhausaufenthalt, der dringend nötig
war, wurde erst möglich, wenn die Kinder versorgt waren. Auf einen
Aufruf hin, der vormittags bekanntgemacht wurde, meldeten sich bereits
bis 14 Uhr vier Frauen, die bereit waren, die Kinder aufzunehmen. Ob das
heute wohl auch so schnell möglich wäre?
Ein genauso wichtiges und brennendes Problem war die
Wasserversorgung. In dem trockenen Sommer 1949 standen einer Person noch
12 Liter Wasser pro Tag zur Verfügung. Das Vieh mußte damit auch noch
versorgt werden. Nicht vorzustellen, wenn ein Brand ausgebrochen wäre.
Heute liegt der Wasserverbrauch bei 200 Litern pro Kopf und Tag. Nur ein
Anschluß an die Blau-Lauter-Gruppe, an deren Gründung wir wesentlich
beteiligt waren, konnte Sicherheit bringen.
Sehr frühzeitig haben sich Gemeinderat und Gemeindeverwaltung mit
der künftigen Aufgabenstellung der Gemeinde und ihrer Entwicklung
auseinandergesetzt. Geschichtliche und landschaftliche Besonderheiten
fehlen bei uns. Die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe, eigentlich
Nebenerwerbsbetriebe, konnten keine Lebensgrundlage mehr sein. Die
Kinder waren deshalb gezwungen, in der Industrie ihren Lebensunterhalt
zu verdienen. Die Heimatvertriebenen suchten ebenfalls Arbeitsmöglichkeiten.
Die ansässigen Gewerbebetriebe – fast nur Textil- und
Schuhmacherbetriebe – wurden einem unbarmherzigen Strukturwandel
unterzogen. Im Laufe der Zeit gingen rd. 700 Arbeitsplätze verloren.
Die Zukunft unserer Gemeinde konnte nur in der Ansiedlung neuer
zukunftsträchtiger Betriebe liegen. Gleichwertig waren bei unseren Überlegungen
das Angebot an heimischen Arbeitsplätzen zu erweitern und die
finanzielle Basis unserer Gemeinde zu verbessern. Daß diese Überlegungen
richtig waren, zeigen die rd. 2.900 Arbeitsplätze in unserer Gemeinde
und die solide Finanzstruktur, die es uns ermöglichte, unsere Probleme
zu lösen und die noch anstehenden Aufgaben zu finanzieren, ohne unsere
Bürger zusätzlich zu belasten. Ich will auf die weiteren Probleme
nicht eingehen, Schule, Kindergarten usw. Sie waren nicht weniger
wichtig und dringend. Sie sind Ihnen bekannt.
Ansprechen möchte ich jedoch die Gemeindereform und die Fragen des
Umweltschutzes. Wir waren keine Freunde der Gemeindereform. Einigkeit
bestand aber darüber, unsere Selbständigkeit mit allen Mitteln zu
verteidigen, die Selbständigkeit unserer jetzigen Ortsteile, Tischardt
und Linsenhofen, zu respektieren, einen möglichen Zusammenschluß mit
anderen Gemeinden jedoch zu verhindern. Nach vielen Verhandlungen, wie hätte
es anders sein können, haben wir uns über die Eingliederung zuerst
1972 mit Tischardt, 1974 mit Linsenhofen geeinigt. Daß alle Beschlüsse
letzten Endes einstimmig gefaßt wurden und keine Gräben blieben, ich
glaube, darauf dürfen alle stolz sein, die seinerzeit mitgewirkt haben.
Die Beschlüsse waren richtig, das wissen wir heute. Die übernommenen
Verpflichtungen haben wir nicht nur dem Buchstaben der Vereinbarungen
gemäß, sondern auch dem Geiste nach längst erfüllt. Heute sind wir
eine Gemeinde, auf die wir stolz sein dürfen, wenn auch noch einige
Schritte aufeinander zu wünschenswert und notwendig sind.
Fragen des Umweltschutzes haben in unserer Gemeinde schon immer eine
große Rolle gespielt. Bereits 1954 wurde mit dem Bau der ersten Kläranlage
begonnen, 1972 wurde die zweite Anlage ganz neu konzipiert und damit
auch der Anschluß an Tischardt-Ost ermöglicht. 1982 wurde dann nach
manchen Geburtswehen die Kläranlage des Abwasserverbandes Neuffener Tal
in Betrieb genommen und die Anlage in Linsenhofen stillgelegt. Die
Steinach ist wieder ein sauberer Bach.
Landschaftspflege und Grünanlagen, Biotop in den Neuäckern, die
Errichtung verschiedener Obstanlagen, Gartenhausgebiete, haben
Entwicklungen in Gang gesetzt, die heute als absolute Notwendigkeit
vertreten werden. Vom "Baumtick" des Frickenhäuser Schultes
war die Rede, weil ohne seine Zustimmung kein Baum gefällt werden
durfte. Und heute? – Welch eine Meinungsänderung!
Von Alfred Krupp stammt das Wort: "Der Zweck der Arbeit soll das
Gemeinwohl sein." Es gehörte ein langer Atem und Standfestigkeit
dazu, das Ziel einer schönen, gutausgestatteten, lebenswerten, auf
sicheren finanziellen Füßen stehenden Gemeinde nicht aus den Augen zu
verlieren, viel Geduld und auch Beharrlichkeit. Ich bin nicht der
Meinung, daß der Zweck die Mittel heiligt. Sicher ist aber, daß nicht
die Absicht entscheidet, sondern der Erfolg unserer Bemühungen. Ob die
Ergebnisse unserer Arbeit gut oder schlecht sind, ist nicht eine Frage
der Methode, sondern vor allem eine Frage des Inhalts unseres Tuns.
Wenn wir unserer Aufgabe gerecht werden wollen, können wir unser Tun
nicht nach dem geringsten Widerstand ausrichten, nicht nach dem, was
gerade "in" ist, sondern am Auftrag unserer Wähler, unserer Bürger
und den Notwendigkeiten.
So sind für mich Wahlergebnisse zwar Bestätigung meiner Arbeit,
jedoch keine Absolution, vielmehr Aufforderung zur Fortsetzung. Das Amt
des Bürgermeisters, das vom Vertrauensvorschuß der Bürger lebt,
bietet keinen Raum für persönliche Machtambitionen und politischen
Ehrgeiz, wohl aber für den Dienst am Bürger und an der Gemeinde.
Jeder Tag – auch der heutige – ist nur eine Zwischenstation
unseres Lebens. Mein Amt habe ich immer als einen begrenzten Auftrag aus
der Hand der Bürger angesehen. In einem schönen Lied heißt es:
"Wir sind nur Gast auf Erden." Und deshalb ist nichts von dem
endgültig, was Menschen tun oder nicht tun. Aber alles, was wir tun,
und auch alles, was wir versäumen, wird zur Voraussetzung, zur
Lebensbedingung derer, die nach uns kommen. Als Erben derjenigen, die
vor uns waren, haben wir das Recht und die Pflicht, das Heute und die
Zukunft über unsere Zeit hinaus zu gestalten.
Wir stehen nicht nur in unserer Gemeinde vor einer Phase des
Neubeginns, der Neubesinnung. Die materiellen Probleme sind gelöst. Es
gilt, die Landschaft, das Gewachsene, unsere Heimat zu erhalten, unsere
Dorfkerne behutsam zu pflegen und zu erneuern, der Vereinsamung der
Menschen entgegenzuwirken durch bewußte Hinwendung zur Gemeinschaft.
Unsere Gemeinde muß nicht nur lebens- sie muß auch liebenswert sein.
Die Probleme, die vor uns stehen, gestatten es uns nicht mehr,
gegeneinander, sondern nur noch miteinander Politik zu machen, gemeinsam
den Weg der Einsicht und der Pflicht zu gehen. Die Alten und die Jungen
müssen ihren Platz behalten.
Seit fast 36 Jahren bin ich hier, seit 30 Jahren in Tischardt und
seit neun Jahren nun in der Gesamtgemeinde Bürgermeister. Ich habe
trotz mancher Schwierigkeiten, mancher Sorgen und manchem Ärger schon
viele schöne Stunden erleben dürfen, so auch heute, und immer viel
Freude an meiner Arbeit, an meinem Amt und meiner Aufgabe gehabt. Wir
haben einander vertragen und manchmal auch ertragen.
Ich bin sicher, daß es auch in den kommenden zwei Jahren so sein
wird, wenn ich weiterhin mit Ihrem Vertrauen, Ihrem Verständnis und
Ihrer Unterstützung rechnen darf.
Bei meiner Vorstellung am 24. Januar 1948 habe ich gesagt: "Mein
Handeln wird sich nach den alten württembergischen Grundsätzen
richten: Sauberkeit nach innen und außen, Gerechtigkeit gegen alle,
Sparsamkeit in der Verwaltung." Daran möchte ich festhalten. Ich
freue mich, daß Sie heute hier sind und danke Ihnen.
Verleihung des Bundesverdienstkreuzes zum 65. Geburtstag,
27.
Februar 1984
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