talheimer Logo1
talheimer Logo2 suchen Verlag Impressum kontakt home



 

Grußwort

Lebenslauf

Lebenswerk

Reden und Texte

 

Virtuelles Erich Scherer Archiv

 

Fernziel und Nahziel

 

In den frühen fünfziger Jahren, so wird berichtet, gab es in Frickenhausen den fast schon legendären "Schuhmachergemeinderat" mit seinen gleichfalls ortsbekannten Nachsitzungen, was ihm den Namen  "Gemeinderat mit Pech am Hintern" einbrachte. In jener Zeit war es üblich, daß der komplette Gemeinderat sich zu einer "Nachsitzung" in einem der Wirtshäuser in Frickenhausen – sie wurden reihum besucht – traf. Die Geschichtsschreibung berichtet, daß diese "Nach-sitzungen" oftmals wichtiger waren wie die eigentlichen Gemeinderatssitzungen. Die damaligen Gemeinderäte, ältere und trinkfeste Männer, waren gut geeicht und konnten so manches Viertele vertragen. Der junge Bürgermeister mußte sich also etwas einfallen lassen, um seinen Gemeinderäten standhalten zu können. Also bat er die Ochsenwirtin Fine Schnitzler um folgendes: "Wenn wir uns zur Nachsitzung bei Dir einfinden, werde ich einen Rotwein bestellen und Du servierst mir einen Johannisbeersaft. Du mußt nur darauf achten, daß Du ihn so mit Sprudel verdünnst, daß er die gleiche Farbe hat wie ein Trollinger!" Die erfahrene Ochsenwirtin, die bei den Nachsitzungen oft bis in den frühen Morgen aufbleiben mußte, verstand den jungen Bürgermeister. Und so ging alles eine Weile gut. Auch die Lammwirtsleute und ihre Bedienung wußten Bescheid und die Gemeinderäte bewunderten, daß der Schultes so viel vertragen konnte. 12 Viertele – so wird berichtet – kamen allemal zusammen und der Bürgermeister war erst – was sie ja nicht wissen konnten – bei den letzten zweien mit von der Partie. Eines Tages geschah es, daß im Lamm eine neue Bedienung eingestellt wurde, die man sofort davon unterrichtete, daß der Rotwein des Schultes schwarzer Johannisbeersaft mit Sprudel verdünnt sei. Eines Abends stieß zu später Stunde der Vermesser zur "Nachsitzung" und bestellte: "Das Gleiche wie der Schultes!" Die Bedienung, die keinen Fehler machen wollte und der man offensichtlich vergessen hatte zu sagen, daß niemand davon wissen durfte, fragte daraufhin: "Sie wollen also auch einen Träublessaft?" – Die Runde verstummte und blickte fassungslos auf den Bürgermeister ......

 

Urgestein

Die Geschichte vom knitzen Schultes, der seine Gemeinderäte auf dem abendlichen Wein-Parkett überlistete, hielt sich lange in Frickenhausen. Hätte der Zufall nicht den Träublessaft an den Tag gebracht, der Bürgermeister gälte heute noch als überragend trollingerfest. Doch zeigt die kleine Anekdote ein besonderes Lokalkolorit. Bodenständig, bürgernah und mit einer guten Portion Bauernschläue ausgestattet bekleidete Erich Scherer sein Amt. Ein Bürgermeister zum Anfassen war er, ein souveräner Amtsträger und ein Gemeindediener, der seine Bürger kannte.

Zu seinen großen Fähigkeiten gehörte der perspektivische Blick über den Alltagshorizont hinaus. Er konnte Nahziel und Fernziel verknüpfen. Er vermochte den kleinen Kosmos der Gemeinde im großen Kosmos der Welt zu orten, über die Grenzen hinweg zu denken und dabei doch lokal zu handeln. Die gewaltigen Folgen des Krieges, die Last des Wiederaufbaus, die Schwierigkeiten der Politik in Bonn, die Hindernisse der Handlungen in Stuttgart – sie alle übersetzte und buchstabierte er in der alltäglichen Praxis eines Bürgeramtes.

Wer so in zwei Welten zuhause sein kann, dem trauen die Bürgerinnen und Bürger zu, daß er Orientierung bietet und Auswege weist. Hierin wächst Vertrauen. Seine Bindung an das Wohl der Gemeinde und sein Wunsch, nicht seinem persönlichen Vorteil, sondern der Gemeinschaft zu dienen, durchzieht seine Reden und Ansprachen wie ein moralisches Leitmotiv. Er wollte erster Bürger unter Gleichen sein.

Seine Auffassungen tat er kund, wo er konnte. Selbst die Einweihung eines Feuerwehrautos geriet ihm noch zu festen Überlegungen über "Demokraten der Praxis". In den ausgewählten und wiedergegebenen Ansprachen aus einer Zeit von 38 Jahren erscheint uns vieles heute wieder aktuell. Die großen Weichenstellungen der vierziger und fünfziger Jahre kehren in gewandelter Form zu Beginn der neunziger Jahre wieder. Das Ende der DDR, der Aufbruch nach Europa, Arbeitslosigkeit und Wohnungsmangel, Suche nach Orientierung und Hilferufe junger Menschen, die Eingliederung von zugewanderten Bürgern und der Umbau der staatlichen Verwaltung ... hier wäre ein alter Schultes vom Schlage Erich Scherers ein wichtiger Ratgeber, Warner und Ermutiger. Seine Reden belegen seine Erfahrung, Kompetenz und Menschenkenntnis.

Der Tag seiner Beerdigung brachte die Weggefährten aus alten Tagen noch einmal zusammen und ließ Junge und Neulinge aufhorchen. Von ihnen gegangen war nicht ein Amtsverwalter sondern ein markantes Stück Frickenhäuser Geschichte, ein Urgestein des Wiederaufbaus. Es wird die Zeit kommen, daß wir wieder lernen zuzuhören, Querdenkerisches anzunehmen und uns auf unsere gemeinsame kulturelle und soziale Geschichte zu besinnen. Dann aber wird uns die Erfahrung jener fehlen, die unkonventionell zupacken und mitmenschlich helfen, Wärme zeigen konnten.

 

Gemeinde der Trauer

Unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit wurde Anfang des Jahres der weit über seine Gemeinde Frickenhausen hinaus bekannte Kommunalpolitiker Erich Scherer beigesetzt. Er gehörte zu den dienstältesten Bürgermeistern Baden-Württembergs. Als 'erster Diener der Bürger' war er 38 Jahre ununterbrochen im Amt. Der in Mössingen-Talheim geborene Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande war 1948 bei großer Wahlbeteiligung mit einem Stimmanteil von 92 % gewählt in späteren Jahren vergleichbar immer wieder im Amt bestätigt worden. Zum Ende seiner Tätigkeit 1986 erhielt er die Ehrenbürgerschaft Frickenhausens. An seinem Grab nahmen über tausend Trauergäste, darunter Repräsentanten des Kreistages und Gemeindetages, Bundes- und Landtagsabgeordnete, zahlreiche Bürgermeister der umliegenden Orte, ehemalige 'Stifte', Vertreter von Vereinen, Schulen, Feuerwehren, Behinderteneinrichtungen und hunderte von Bürgern der Landkreise Esslingen und Tübingen Abschied von "ihrem Bürgermeister", der wie kaum ein anderer das Vertrauen seiner Wähler genoß. Für sie war er der Motor des Aufbaus in den Nachkriegsjahren. Als er das Rathaus verließ, war Frickenhausen eine wirtschaftlich stabile und schuldenfreie Gemeinde. Die hohe Anzahl angesiedelter Betriebe sicherte sogar erhebliche finanzielle Rücklagen.

Erich Scherer gehörte mehr als 25 Jahre dem Kreistag an, wirkte in dessen Wirtschafts- und Finanzausschuß und war 2. stellvertretender Vorsitzender des Sozialausschusses. Von 1949 bis 1966 leitete er als Vorstandsvorsitzender der Volksbank (ehem. Genossenschaftsbank) deren Wachstum. Neue Wege in der Politik der öffentlichen Wasserversorgung ermöglichte er als stellvertretender Verbandsvorsitzender und Mitglied des Verwaltungsrates der 'Blau-Lauter-Gruppe'. Zudem agierte er als Gründungsmitglied des Abwasserverbandes 'Neuffener Tal'. Anstöße gabe er im Bereich der Behinderten- und Altenhilfe und in der Bildungspolitik: Erich Scherer gehörte zu den Gründern des Hauptschulverbandes. Von 1952 bis 1956 sicherte er als Aufsichtsrat der 'Siedlungsbau Neckar-Fils' den Neubau von Wohnungen. Als Bürgermeister verpflichtete er sich der Sacharbeit, politisch überparteilich fand er seine Heimat bei den Freien Wählern (FUW). Hohen Respekt zollte er Politikern wie Gallus, Teufel und Willy Brandt.

Als Ehrenmitglied zahlreicher Vereine und kommunaler Vereinigungen galt Erich Scherer als wichtige Orientierung für die Bürger, die einen Weg in das Leben der jungen Bundesrepublik suchten. Am Ehrengrab verneigte sich die Gemeinde in Dankbarkeit vor einer integren Persönlichkeit der Zeitgeschichte. Er starb am 29. Dezember 1993 kurz vor seinem 75. Geburtstag.

 

Nachgedanken

In der Geschichte und Haltung eines Menschen, zumal wenn er an vorderer Stelle eines Gemeinwesens stand, spiegeln sich die gesellschaftlichen Entwicklungen mit ihren Problemen und Hoffnungen, aber auch die Lebensentwürfe vieler Menschen mit ihren Wünschen und Zielen während dessen Lebenszeit. So lesen sich die ausgewählten Reden von Erich Scherer, die er während seiner Zeit als Bürgermeister von Frickenhausen erdacht, geschrieben und vorgetragen hat, wie ein kleiner Gang durch die jüngere Zeitgeschichte der Bundesrepublik, in der die Entwicklung der Gemeinde Frickenhausen mit ihren Ortsteilen Linsenhofen und Tischardt ihren Platz hat und gleichzeitig als konkretes Beispiel die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der jeweiligen Zeit vorscheinen läßt.

Die Geschichte einer Gemeinde, ob in Baden-Württemberg oder in einem anderen Bundesland, läßt sich nicht allein anhand der – wenn auch wichtigen – Bauten, Einrichtungen, der geschaffenen Infrastruktur, der Entwicklung der Einwohnerzahlen und der Anzahl der aktiven Vereine erzählen und verstehen. Ganz wesentlich dazu gehören die Menschen, die einzelnen Akteure, die solche Vorhaben und Entwicklungen geplant, unterstützt und umgesetzt haben. Um dieses sichtbar zu machen, bedarf es der Erzählung der damaligen Akteure und der Nachforschung in den Dokumenten – Zeitungsartikel, Gemeinderatsbeschlüsse, Aktennotizen, Reden und Bilder –, die in der jeweiligen Zeit formuliert, beschlossen und festgehalten wurden. Die eigenständige Entwicklung und Besonderheiten der Gemeinden Frickenhausen, Linsenhofen und Tischardt, die auch nach dem erzwungenen Zusammenschluß fortbestehen, aber auch die Lebensweisen der hier lebenden Bürgerinnen und Bürger gilt es einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei spielt sicherlich die jüngere bundesrepublikanische Geschichte eine besondere Rolle. Ein Dorf- oder Heimatmuseum könnte hierbei sicherlich hilfreich sein. Der Nachlaß von Erich Scherer ist ganz besonders für die jüngere deutsche Geschichte und die Entwicklung der Gemeinde von der Nachkriegszeit bis Mitte der 80er Jahre, aber auch darüber hinaus eine wichtige Fundgrube.

Die Geschichte einer Gemeinde zu kennen, aus ihr zu lernen, schafft eine der Voraussetzungen für jene Haltung, die "für das Wohl der Gemeinde" (Erich Scherer) dasein will.

 

Autoren- und Herausgeberteam, 1994