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Grußwort

Lebenslauf

Lebenswerk

Reden und Texte

 

Virtuelles Erich Scherer Archiv

 

Leben in Würde

 

Natürlich paßt nur ein kleiner Teil dessen, was ein langes Leben, ausmacht, in eine gebundene Schrift – zumal wenn es so ausgefüllt und erfüllt war wie das unseres Vaters. Die folgenden Seiten mit Reden, Aufstellungen, Beschreibungen und einem Teil jener kurzen Blätter, in denen er Einsichten und Resultate seines Nachdenkens über seine Arbeit und sein Leben festhielt oder ihm wichtige Gedanken und Sätze aus Büchern, Reden oder Artikeln notierte; sie sind gedacht als Erinnerung an den Verstorbenen, als Erinnerung für die Familie und seine Freunde.

Die Idee zu einem solchen Buch ist nicht neu. Nach seiner Pensionierung haben wir unseren Vater zu bewegen versucht, seine Erfahrungen aufzuschreiben, ihre wesentlichen Linien zu benennen und gleichsam die Summe aus den langen Jahren der Arbeit als Bürgermeister zu ziehen. Denn es gab ja nicht viele, die wie er in der Lage gewesen wären, Rückblick zu halten auf fast vier Jahrzehnte Nachkriegsentwicklung, und es wäre bei dieser Erinnerung ja nicht nur um das Dorf Frickenhausen und später noch um Tischardt und Linsenhofen gegangen, sondern auch um die Geschichte der Region und des Landes. Er wollte nicht und hat den Vorschlag abgelehnt, aus der Angst heraus, sich selbst für zu wichtig zu halten und dem Schein mehr Recht einzuräumen als dem Sein. Und wenn er nicht wollte, dann wollte er nicht.

So haben nun wir, seine Kinder, die Aufgabe übernommen, nach seinem Tode aus dem, was er an Schriftlichem hinterlassen hat, ein Büchlein zusammenzustellen. Es ist für uns ein Teil der Erinnerung und des Nachdenkens über unseren Vater, darüber, was in den fast 75 Jahren seines Lebens geschehen, und welche Motive ihn bewegt haben, was die Grundlage seines Handelns gewesen ist. Und wir wollen diese Erinnerung und dieses Nachdenken mit anderen, die mit ihm gelebt und gearbeitet haben, auf dem Wege dieses Buch teilen.

Wir haben auch eine Zusammenstellung dessen, was in der Gemeinde Frickenhausen und in den Ortsteilen Tischardt und Linsenhofen in seiner Amtszeit gebaut und entwickelt worden ist, aufgenommen. Es ist nicht mehr als eine kurze Aufzählung der praktischen Schritte, die von einer halbbäuerlichen Landgemeinde, deren Bewohner von der Landwirtschaft nicht mehr so recht leben konnten und deren wirtschaftliche Grundlage im Schusterhandwerk und in der Textilindustrie zu schmal war, hin zu einer Industriegemeinde mit in den verschiedensten Branchen tätigen Unternehmen und mehr Arbeitsplätzen, als für die Einwohner benötigt, führten. Auf einem der kurzen Blätter, das der Handschrift nach zu urteilen noch aus den 50er Jahren stammen muß, hatte er geschrieben: ,,Man wird uns (d.h. die Bürgermeister) nicht an unseren Absichten messen, sondern an unseren Erfolgen.” Und aus dem Umfeld geht hervor, daß er dabei an den biblischen Satz dachte: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Wir können hier nicht die Einzelheiten der Geschichte alles dessen aufschreiben, was von 1948 bis 1986 geplant, gebaut und errichtet wurde. Das muß einer Chronik der Gemeinde Frickenhausen mit ihren Ortsteilen überlassen bleiben. Aber natürlich war das ,Bauen‘, die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnungen, Wasser, Sportstätten, Schulen, Kindergärten usw. das zentrale Arbeitsfeld des Bürgermeisters. Allerdings nicht im Sinne einer äußerlichen Erfolgsgeschichte, die sich selbst genügt. Die Überwindung der Not der ersten Nachkriegsjahre sollte für unseren Vater nicht in eine ,,Wohlstandsgesellschaft” führen, gar in ein luxurierendes Wohlleben, sondern in ein ,,Leben in Würde”. Immer wieder hat er erzählt, wie das Schicksal der Flüchtlinge, die dichtgedrängt in Garagen, Baracken und einzelnen Zimmern mehr hausten als wohnten, ihn getroffen hat, wie ihn die Demütigung und der Verlust an menschlicher Würde, den das Elend diesen Menschen zufügte, erschreckte und bedrückte. Das Problem war für ihn nicht bloß, daß soundsoviele Wohnungen fehlten, sondern der Bau von Wohnungen war für ihn zugleich das Mittel, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Menschen ihre Würde wiedergewinnen konnten. Er selbst mußte nur einfalls- und erfindungsreich genug sein, in eigentlich unmöglichen Umständen – die Gemeinde war so verarmt wie die meisten ihrer Einwohner – den Bau von Wohnungen zu ermöglichen. Zu den glücklichsten Erfahrungen gehörte für ihn sicherlich, daß die Menschen das, was er versuchte, annahmen, daß sie wieder Mut faßten, neues Selbstvertrauen schöpften und dann ihrerseits zur Verbesserung der Lage in der Gemeinde beitrugen. So sehr es richtig ist, daß er in diesen ersten Jahren als Bürgermeister die Grundlagen für die Entwicklung der Gemeinde gelegt hat, so sehr haben diese Jahre auch ihn selbst geprägt. 

In dieser frühen Geschichte vom Bau von Wohnungen kommt ein Grundzug seines Handelns und Denkens zum Vorschein. Er hat oft den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss zitiert, der gesagt hatte, die Aufgabe sei nicht, den Menschen zu verstaatlichen, sondern den Staat zu vermenschlichen. Er selbst zog für sich daraus die Maxime: ,,Die Gemeinde ist wichtiger als der Staat. Und wichtiger als die Gemeinde ist der Einzelne.” Das ist ein eindeutiges Unterordnungsverhältnis: der Staat ist dazu da, die Gemeinde in die Lage zu versetzen, den Rahmen zu schaffen, in dem der Einzelne, die Familien, die Vereine, das Gemeinwesen leben kann. Es geht nicht um die Ehre des Staates oder um die (Selbst-)Zufriedenheit der Verwaltung. Staat und Verwaltung haben nur die Aufgabe, den Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich das eigentlich Wichtige, das Leben der Bürgerinnen und Bürger in Würde entfalten kann. Wir haben uns als Kinder und Jugendliche oft gewundert, wie man sich für eine so trockene Sache wie die Verwaltung so leidenschaftlich begeistern kann, wie unser Vater es tat. Die Erklärung ist: Für ihn hatte die Verwaltung die Aufgabe, die Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben der Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Sie konnte das Leben in den Familien, den Vereinen, im Dorf nicht ersetzen oder gar bestimmen, aber sie konnte nach seiner Überzeugung die Voraussetzungen schaffen, damit dieses Leben entstehen und sich entwickeln kann. Im Ziel, die kommunalen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben zu schaffen, und in der Beschränkung, dem Respekt vor dem Leben des Einzelnen, lag beides, die Überzeugungskraft und die Bescheidenheit, die ihn kennzeichneten.

Darin ist vieles enthalten, auch wesentliche Erfahrungen seiner Herkunft. Als ältester Sohn kleiner Bauern unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg geboren, gehörten die Notzeiten, der Wechsel von Geldknappheit und Inflationsverlusten in der Weimarer Republik zu den wichtigen Erfahrungen der Kindheit und frühen Jugend. Die Eltern hatten neu gebaut, und die Rückzahlung des Kredits drückte auf die Familie. Das Realgymnasium in Tübingen konnte er nur besuchen, wenn sein Notendurchschnitt alljährlich besser war, als was gefordert wurde, und damit die Zahlung des Schulgeldes, das seine Eltern nicht hätten aufbringen können, entfiel. Der Vater übte, um die Einkommenssituation der Familie zu verbessern und wohl auch aus Neigung, das Amt des Gemeindepflegers während langer Jahre aus. Doch trotz dieser eher schwierigen materiellen Situation, gehört zu den ersten Erfahrungen auch die Würde dessen, der zwar arm und bescheiden, aber auf eigenen Füßen steht, niemandem verpflichtet außer der Moral und den eigenen Einsichten, und der aus dieser Freiheit – und sei sie mit noch so vielen Entbehrungen erkauft – seine Selbstachtung zieht. Stark geprägt worden ist die Moral und die Grundlage dieser Lebenshaltung vom pietistischen Erbe seiner Mutter, das sicherlich streng war, wohl aber auch verhindert hat, daß er nach dem Abschluß der Schule als nun 16-Jähriger dem Vorschlag eines NSDAP-Parteigremiums entsprechend auf eine Eliteschule der Nazis geschickt wurde. Aus der bäuerlichen und eher ärmlichen Herkunft, die er Zeit seines Lebens nie verleugnete, auf deren selbstbewußte Identität er im Gegenteil immer stolz gewesen ist, stammen auch noch zwei andere Charakterzüge: der Blick für die konkreten Probleme (und daraus folgend die Abneigung gegen bloßes Reden und Politisieren), und die Einsicht, daß man mit der Natur pfleglich umgehen muß, will man einen Ertrag von ihr erwarten. Auf die Schule folgte der Beginn einer Lehre als Verwaltungsbeamter, dann die Einziehung zum ,,Arbeitsdienst” und schließlich der Krieg.

Unser Vater verstand sich zweifellos als Patriot, und der Kampf fürs Vaterland war für ihn eine selbstverständliche Pflicht. Dennoch verdichteten sich für ihn in den letzten Jahren des Krieges die Zweifel. Es waren die in der Haltung seiner Eltern bereits angelegten Zweifel an einem übermächtigen Staat. Der faschistische Staat hatte sich zwar großartig aufgebläht, aber herausgekommen war nur Gewalt und Leid. Unser Vater wurde vom Hauptfeldwebel zum Obergefreiten degradiert, Anfang 1943, weil er in einer Diskussion unter Soldaten seine Zweifel in die Worte gefaßt hatte, daß der ,,Führer der Deutschen Arbeitsfront” Ley der größte Säufer und der ,,Reichsführer-SS” Himmler der Untergang des Vaterlandes sei. Er wurde ,,verpfiffen”, und wäre ihm der Hauptmann der Kompanie nicht wohlgesonnen gewesen, es hätte der öffentlich geäußerte Zweifel leicht in einer Strafkompanie enden können. Auch für ihn war Stalingrad ein Wendepunkt; in zweifacher Hinsicht: zum einen bedeutete Stalingrad die Wende zu einer Niederlage, wie er einmal formulierte, in einem Krieg, der wohl auch nicht gewonnen werden durfte. Und zum anderen vergrößerte die Kaltblütigkeit, mit der aus Propaganda-Gründen fast eine halbe Million Soldaten in Stalingrad geopfert wurden, die Distanz zum NS-Regime. Konnte er zuvor noch den Krieg als Kampf für das Vaterland verstehen und darum auch Opfer für vertretbar halten, so war ihm danach klar, daß es sinnlos und unverantwortlich war, weitere Opfer zu bringen. Schwer getroffen hat ihn der Tod seines Bruders Richard, der kurz vor Weihnachten 1942 an der Ostfront zu Tode kam. (Er hat dann seinen ersten Sohn nach ihm benannt.) Er hob immer wieder die Kameradschaft unter den Soldaten während des Krieges hervor; das war ihm das Wichtigste gewesen. Aber auch das Leid, das der Krieg hervorbrachte und an dem er beteiligt war, hat ihn sein Leben lang beschäftigt. Er erzählte uns mehrmals, wie sie nach einem – militärisch gesehen: erfolgreichen – Bombenangriff, er war bei den Fliegern, weinend im Flugzeug saßen, weil sie sich nur zu genau vorstellen konnten, wie die Bomben dort gewirkt hatten, wo sie einschlugen.

Im Herbst 1945 kehrte er 26-jährig aus Krieg und Kriegsgefangenschaft bei der englischen Armee in seine Heimat zurück. Die Zweifel des Krieges löste er, indem er zwischen Hitler-Staat und Vaterland unterschied; indem er auch das deutsche Volk als Opfer der Diktatur und des Krieges sah. Und er fand zu dem Grundsatz, daß das Leben des Einzelnen, der Familie und der Gemeinde wichtiger sei als das Ehrbedürfnis und das Machtstreben des Staates. Oder anders ausgedrückt: Daß das Leben und die aus der Selbstverantwortung des Einzelnen entspringende Freiheit wichtiger seien als die staatlichen Ansprüche. Die Vorstellung, es könnte eine Gruppe, sei es eine Partei, die Unternehmer, Banken, die Gewerkschaften oder der Staat selbst so mächtig werden, daß sie in der Lage wäre, die Menschen zur bloßen Masse zu machen, war ihm seitdem eine Schreckensvorstellung. Was er erstrebte war das Gleichgewicht, das allen gerecht wird.

Von der Grundlage dieser Orientierung aus wollte er seinen Beitrag zum Wiederaufbau und zur Behebung der Nachkriegsnot leisten; und dazu beendete er zuerst seine Ausbildung als Verwaltungsbeamter und ging für einige Zeit an die Landratsämter in Rottweil und Tübingen.

Als das Schlüsselerlebnis bei der Kandidatur zum Bürgermeister von Frickenhausen hat unser Vater mehrmals den Besuch in den Flüchtlingsunterkünften bezeichnet, zu denen die Bürgermeisterkandidaten geführt wurden, bevor sie sich den Bürgerinnen und Bürgern vorstellten. Bei diesem Gang ist wohl seine innere Entscheidung für Frickenhausen gefallen, und seine Bewerbungsrede muß dies auch ausgestrahlt haben, sonst wäre das Wahlergebnis von 92 % nicht zu erklären. Denn die Bewerbungsrede enthielt ja den Satz, daß er eine rasche Lösung der Probleme nicht versprechen könne. Die Mehrheit hat sich für ihn nicht wegen irgendwelcher Versprechungen entschieden. Aber die Bewerbungsrede enthielt auch die Zusage einer dauerhaften und ernsthaften Arbeit an der Not auf der Grundlage des Gemeinsinns der Bürger. Und offensichtlich hat man ihm diesen Ernst geglaubt.

Der Anfang geschah mit dem Bau von Wohnungen, der Wasserversorgung, der Ausbesserung der Straßen. Aber noch ins ersten Jahr fällt auch die Wiedereinführung des Kinderfestes, liegen intensive Gespräche zur Unterstützung der Vereine, gab es erste Überlegungen zu einem Jugendhaus, um den Vereinen und damit dem sozialen Leben im Dorf einen Platz zu geben. Und es fanden die ersten Gespräche mit Firmen zur Industrieansiedlung statt. Man kann darin die drei Äste seiner Arbeit über all die Jahre (und jeder vernünftigen Kommunalpolitik) erkennen: Die Sicherung der Grundversorgung mit Wohnungen, Wasser, Straßen und anderen kommunalen Einrichtungen; die Gewerbeansiedlung als der wirtschaftlichen Grundlage; und die Schaffung von Räumen, in denen das soziale und kulturelle Leben des Dorfes sich entfalten kann. Eingebunden waren diese drei Äste seiner Arbeit in eine langfristige und grundsätzliche Überlegung, nämlich die zur Region Mittlerer Neckarraum. Heutzutage ist der Begriff Mittlerer Neckarraum jedermann geläufig, aber um das Jahr 1950 war die Region ein schattenhaftes Gebilde, deren Anfänge erst schemenhaft zu erkennen waren. Die langfristige Überlegung war die: Frickenhausen braucht die Beziehungen zur Region mittlerer Neckarraum, um sich zu entwickeln. Und zugleich werden durch das Gewicht der Region Kräfte entstehen, die die Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Gemeinde bedrohen und in Frage stellen. Es ging ihm also darum, die Beziehungen zur Region zu entwickeln, um die darin liegenden Möglichkeiten zu nutzen, und zugleich Vorkehrungen zu treffen für den Fall, daß die Eigenständigkeit der Gemeinde bedroht wäre. Dazu mußte die Gemeinde wirtschaftlich stark werden und den Willen haben, ihre Eigenständigkeit zu behaupten. Die Entwicklung der 60er und 70er Jahre war dann auch so: Es gab eine starke Tendenz, größere Verbände zu schaffen und die Gemeinde größeren Einheiten unterzuordnen; und Frickenhausen war stark genug, sich seine Selbständigkeit zu bewahren.

Die erste und wesentliche Phase des Wiederaufbaus, die Beseitigung der Kriegsfolgen und die Schaffung einer neuen Grundlage für das Gemeinwesen, war um die Mitte der 60er Jahre abgeschlossen. Eine fast 20 Jahre dauernde Periode intensiver Arbeit ging damit zu Ende. Die Gesellschaft, auch die Gemeinde Frickenhausen, änderte ihr Gesicht. In der Gemeinde waren wesentliche Verbesserungen erreicht, vieles gebaut oder doch auf den Weg gebracht worden. Trotz aller Ausgaben hatte die Gemeinde einen soliden und ausgeglichenen Haushalt und niemals finanzielle Sorgen. Der Grund dafür war der, daß sich zum einen die Industrieansiedlung positiv auszuwirken begann, unser Vater zum andern alle Vorhaben sehr langfristig betrieb und zur Vorbereitung nicht nur die Suche nach der günstigsten Möglichkeit, sondern auch das frühzeitige Bilden von Rücklagen gehörte. Das Schuldenmachen war ihm immer ein Greuel, übrigens auch im privaten Bereich. Denn auch die Schulden, sofern sie nicht wirklich getragen werden können, bedrohten nach seiner Einsicht die Freiheit und die Eigenständigkeit der Gemeinde, indem sie abhängig machen. (Man darf bei dieser Haltung an die heutigen Verhältnisse im Staat gar nicht denken.) Daß der Bürgermeister im Hinblick auf die Finanzen nur der getreue Haushalter der Gemeinde sein könne, war ihm immer selbstverständlich. Ebenso die Einsicht, daß man sich nur das leisten könne, was man finanziell auch tragen kann. Er fürchtete bei den Schulden nicht so sehr den Druck der Zinsen, sondern die Gefahr, der Blick für die Realität könnte getrübt werden oder verloren gehen. Manche Auseinandersetzungen in der Gemeinde während der späten 60er und der 70er Jahre gehen darauf zurück, daß er sich Wünschen verweigerte, die nur über Schulden zu finanzieren waren, den Blick auf die Realität der Gemeinde also verstellten. Natürlich hat die Gemeinde manches über Kredite finanziert; aber die Rückzahlung mußte überschaubar und gesichert sein. Ihm ging es nicht darum, möglichst schnell möglichst Alles zu haben, sondern den Aufbau solide und reell zu vollziehen und die eigenen Möglichkeiten realistisch im Blick zu behalten. Er konnte fast wütend werden, wenn er das Gefühl hatte, man mute ihm zu, die Grundlage dieser Seriosität zu verlassen. Zum Ausdruck kam darin auch sein Verhältnis zum Geld. Er hat tüchtige Leute immer geschätzt und gerne mit ihnen zusammengearbeitet. Und er fand es auch völlig in Ordnung, daß Tüchtigkeit sich in einem entsprechenden Verdienst niederschlug. Aber Leute, die bloß Geld hatten, haben ihn nie beeindruckt. Seine Lebenserfahrung war groß genug, um zu wissen, auf welchem Wege Vermögen zustande kommen können. Und er hat vor allem immer versucht, dem Einzelnen, ganz unabhängig davon, ob er wohlhabend war oder nicht, in seinem Anliegen gerecht zu werden. Er sah sich als Bürgermeister allen Bürgern verpflichtet, welcher Besitzklasse der Einzelne angehörte, spielte dabei keine Rolle. Oft waren es gerade die, die wenig hatten, für die er sich besonders eingesetzt hat.

Dahinter stand die Vorstellung vom Gleichgewicht. Wie verschieden sich die Situation der Einzelnen in finanzieller Hinsicht auch darstellte, sie hatten alle ihren Platz im Gemeinwesen, gehörten zum Dorf und durften darin nicht geschmälert werden. Das Gleichgewicht entstand durch den gemeinsamen Bezug aufs Dorf, und unser Vater sah seine Aufgabe als Bürgermeister darin, dieses Gleichgewicht zu erhalten, oder dort, wo es gefährdet war, einzugreifen. Diese Haltung hat ihm viel Respekt eingetragen und dazu geführt, daß er öfter in Familienangelegenheiten um Rat gefragt wurde. Auch auf einem anderen Gebiet, dem der Industrieansiedlung, hat er versucht, ein Gleichgewicht zu finden. Sein Ziel war es, zum einen den Menschen aus dem Dorf eine Chance zum Aufbau eines Betriebes zu geben (soweit das von der Gemeindeverwaltung abhing), zum andern möglichst Betriebe aus verschiedenen Branchen anzusiedeln, um die Gemeinde nicht, wie es bei der Schuh- und Textilindustrie der Fall gewesen war, durch die Krise einer Branche zu gefährden, und möglichst vielfältige Arbeitsplätze zu schaffen. Und es ging ihm auch darum, die Gemeinde nicht von einem Großbetrieb abhängig werden zu lassen. Er sagte einmal, daß er, selbst wenn er einen goldenen Schreibtisch bekäme, nicht Bürgermeister von Sindelfingen sein wolle. Das Gleichgewicht unter den Betrieben und Branchen war für ihn notwendig, damit die anderen, nicht-ökonomischen Bereiche der Gemeinde sich ungestört entfalten konnten.

Seit dem Ende der 60er Jahre trat die Diskussion über die Gemeindereform in ihre entscheidende Phase. Damit war auch die Selbständigkeit der Gemeinde Frickenhausen in Frage gestellt. Nach der Planung der Zentrale in Stuttgart sollte Frickenhausen zur Stadt Nürtingen geschlagen werden. Größere Verbände seien per se effektiver als kleinere selbständige Einheiten, so lautete die damalige Überzeugung, die dann auch umgesetzt wurde. Von seiner Grundhaltung her, der selbstverantworteten Freiheit, mußte dieser Ansatz unseren Vater mißtrauisch machen. Er mißtraute den großen Einheiten mit ihren dogmatischen Verfahren und Schablonen, die seiner Überzeugung nach der Vielfalt der wirklichen Verhältnisse und des Lebens nicht gerecht werden konnten. Zur Arbeit an der auf einem soliden Fundament gegründeten Entwicklung der Gemeinde kam nun die Aufgabe, ihre Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu bewahren. Das war nach Lage der Dinge nur möglich, wenn sich Frickenhausen mit den benachbarten Gemeinden Tischardt und Linsenhofen zusammenschloß, damit die drei beteiligten Gemeinden gemeinsam der Eingemeindung entgingen. In Tischardt war unser Vater seit 1954 Bürgermeister; er hatte sich zur Wahl dort beworben, weil er eine Zusammenarbeit der Gemeinden Frickenhausen und Tischardt für sinnvoll und notwendig erachtete. Zur Gemeinde Linsenhofen hatte er sich immer um ein gutes Verhältnis bemüht, auch schon früh versucht, die Vorbehalte, die in Frickenhausen und Linsenhofen gegeneinander bestanden, auszuräumen. Die strategische Entscheidung, auf einen Zusammenschluß der Gemeinden Frickenhausen, Tischardt und Linsenhofen hinzuarbeiten, war für ihn die Möglichkeit, unter den gegebenen Umständen die größtmögliche Selbständigkeit aller drei Gemeinden zu bewahren. Er hat deshalb auch versucht, die Eingemeindungsverträge möglichst fair und gerecht zu gestalten, um zu einem Gleichgewicht zwischen den Interessen der Gemeinden zu gelangen. Nach seiner Vorstellung wäre es das Beste gewesen, die drei Gemeinden hätten weiter jede für sich bestanden und wären selbständig geblieben. Aber er war realistisch genug einzusehen, daß die Alternative zum Zusammenschluß der drei Gemeinden die Eingemeindung in ein Oberzentrum, Nürtingen oder Neuffen gewesen wäre. Man hat seinen Widerstand gegen die Pläne des Ministeriums zu brechen versucht, indem man ihm verschiedene lukrative Angebote machte; er hat sie alle abgelehnt.

Seine Skepsis gegenüber der sogenannten Gemeindereform sah er in späteren Jahren bestätigt. Zehn Jahre nach ihrer Einführung hat er ausgiebig darüber gespöttelt, wie sehr es ihn wundere, daß niemand auf die Idee gekommen sei, zum 10-jährigen Jubiläum der Gemeindereform eine Festveranstaltung durchzuführen. Die Schaffung größerer Einheiten hatte die Verwaltung nicht effektiver gemacht, sondern zu mehr Aufwand und zu größerer Entfernung von den Bürgerinnen und Bürgern geführt.

Manchmal hat er das Jahr 1970 als ,,Schicksalsjahr” bezeichnet. Persönlich gesehen hing dies mit einer schweren Krankheit zusammen, einer Operation, deren Risiko so groß war, daß die Ärzte ihm empfahlen, für alle Fälle sein Testament zu machen. Zum ersten Mal seit dem Krieg stieß er wieder an die Grenze des Todes. Aber es war nicht nur das persönliche Schicksal, das er tragen mußte, was ihm das Jahr 1970 bedeutungsschwer machte. Es stellte sich sehr deutlich heraus, daß die Zeit sich gegenüber der Aufbauphase nach dem Krieg tiefgreifend verändert hatte. Er spürte dies im Wechsel der Stimmungen in der Gemeinde, dem einsetzenden Wertewandel und auch in den persönlichen Angriffen gegen sich selbst, die er als unsachlich, beleidigend und verletzend empfand. Es entstanden neue Fragestellungen, und manche von denen, die er als Freunde geschätzt hatte, standen ihm plötzlich als Gegner gegenüber. Ein Jahrzehnt später hat er sein Nachdenken über diese Entwicklung in die Frage gekleidet, ,,ob wir nicht beim Wiederaufbau nach dem Krieg etwas Wesentliches vergessen haben”, und er meinte damit die Verpflichtung auf das Gemeinwesen, auf die Gemeinde, die er als Korrektur des bloßen Privatinteresses für unbedingt notwendig hielt. Die Zweifel an einer Wohlstandsgesellschaft, der die inneren Verbindungen und Verbindlichkeiten verloren gehen, verdichteten sich für ihn immer mehr und wurden in den späten 80er Jahren zur Gewißheit, daß das Gemeinwesen eigentlich kein Fundament mehr hatte. Er sah, wie das Gemeinwesen in Gruppeninteressen und Einzelegoismen zerfiel und das Gleichgewicht zwischen dem Bezug aufs Gemeinwesen, der Verpflichtung gegenüber der Gemeinde und dem Land, und den berechtigten Interessen des Einzelnen zunehmend verloren ging. Und er fand Beispiele dafür auf allen Ebenen, von der der Gemeinde bis zu der des Bundes. In seinen letzten Jahren stand er der Entwicklung sehr skeptisch gegenüber.

In der Rede, die er bei seiner Verabschiedung nach 38 Dienstjahren als Bürgermeister von Frickenhausen, Tischardt und Linsenhofen hielt, griff er noch einmal auf jene Rede zurück, die er bei seiner ersten Kandidatur zum Bürgermeisteramt 1948 gehalten hatte. Wichtig war ihm nicht, mit großer Geste auf die Erfolge seiner Amtszeit hinzuweisen – und er hätte dabei doch vieles aufzählen können –, sondern öffentlich redend darüber nachzudenken, ob die Überzeugungen und inneren Leitlinien, die er damals aufgestellt hatte, haltbar gewesen waren, und ob er sie erfüllt hatte. Das Dorf und die Gesellschaft insgesamt waren ohne Zweifel besser ausgestattet, wohlhabender, reicher geworden. Aber er fragte nach den moralischen Prinzipien, den Überzeugungen, die ihn damals, als die Not groß und ihre Überwindung kaum absehbar war, geleitet hatten. Schon einige Jahre zuvor, als ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, hatte er in seiner Dankesrede höflich darauf hingewiesen, daß es ihm um etwas anderes gehe als die äußere Ehre eines Ordens. Man könne eigentlich niemanden ehren, der nur das getan, was seine Pflicht gewesen und der seinen Überzeugungen treu geblieben sei. In seiner Abschiedsrede 1986 schloß er den Kreis, schlug den Bogen zurück zum Anfang und bekräftigte noch einmal die Überzeugungen, mit denen er begonnen hatte.

 

Autoren- und Herausgeberteam, 1994